


Mainz/Nürnberg. Am Freitag ist Julian Weber nach Nürnberg gefahren. Wohlwissend, dass er dort eine Menge Zeit haben wird, bis er an der Reihe ist. Der Speerwurf der Männer nämlich ist die letzte technische Disziplin, die bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften aufgerufen wird – erst am späten Sonntagnachmittag geht es los, um 17.20 Uhr. Immerhin passt das dann genau in die Live-Übertragung des ZDF.
Die Wartezeit wird dem Sportler des USC Mainz nichts ausmachen. Erstens, weil er am Samstag beim Speerwurf der Frauen seine Trainingsgruppenpartnerin Desiree Schwarz unterstützen will. Und zweitens, weil diese knapp zwei Tage bis zum eigenen Auftritt ein Klacks sind gegenüber den mehr als 15 Monaten, die er sich nach seiner schweren Ellbogenverletzung im April vorigen Jahres und einem Bandscheibenvorfall in diesem Frühjahr bis zum Comeback gedulden musste.
Das fiel beim Weltcup in London angesichts der Umstände sehr gut aus. Weber, den der Deutsche Leichtathletik-Verband nominierte, weil die anderen infrage kommenden Topwerfer entweder angeschlagen verzichtet hatten oder sich in Ruhe auf die DM vorbereiten wollten, gewann den Wettkampf. Er war neben der Diskuswerferin Claudine Vita der einzige deutsche Sieger, „und acht Punkte fürs Team geholt zu haben, war ein gutes Gefühl“.
„Hört sich doof an, ist auch doof“
Gleichwohl ist dem Mainzer bewusst, dass er mit der Weite von 82,80 Metern zwar die Norm für die Europameisterschaften vom 7. bis 12. August in Berlin erfüllt hat, dass er aber damit keine Chance auf einen der drei deutschen Startplätze besitzt. An die Jahresbestleistungen von Johannes Vetter, Andreas Hofmann und Thomas Röhler, allesamt über 90 Meter, wird er nicht herankommen. „Es hört sich doof an, und es ist auch doof, aber eine EM-Teilnahme ist für mich nur möglich, wenn einer der anderen verletzt ausfällt“, sagt er. Das könnte bei Vetter der Fall sein. „Aber auf so etwas hoffe ich nicht, und das wünsche ich keinem“, betont Weber. „Wir verstehen uns untereinander alle gut, und die anderen haben mir auch gut zugeredet, als ich verletzt war.“
Ganz gleich, wer am Sonntag tatsächlich antreten wird: Julian Weber könnte das Ganze eigentlich locker angehen. Wenn der schlaue Spruch, jemand habe nichts zu verlieren, Gültigkeit besitzt, dann in seiner Situation. „Selbstverständlich will ich immer der Beste sein und, wenn das schon nicht möglich ist, das Beste aus meinem Körper herausholen“, sagt er. Diesmal ist es jedoch schon ein Fortschritt, überhaupt wieder auf einem solchen Level mitmischen zu können.
Mit dem nächsten Saisonaus gerechnet
Ein Jahr Pause hatten ihm die Ärzte nach seiner Sehnentransplantation am Ellbogen prognostiziert; die nacholympische Saison war für den Neuntplatzierten der Spiele von Rio de Janeiro damit gelaufen. „Nach der Operation dachte ich zunächst, das wird gar nichts mehr“, erzählt der Speerwerfer; der Arm befand sich damals in einem 90-Grad-Winkel und ließ sich nur millimeterweise beugen und strecken.
Nach vier, fünf Monaten allerdings war die Beweglichkeit wieder vorhanden, Weber, der die Reha bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Warendorf machte, konnte langsam wieder anfangen, mit Gewichten zu trainieren. „Und schon nach neun Monaten hatte ich mich megagut gefühlt und den Eindruck, dass ich in dieser Saison 90 Meter werfen kann.“
Tatsächlich hatte er sich auf dieses Niveau herangekämpft, als in der letzten Woche des Trainingslagers mit dem Bundeskader in Portugal der nächste Rückschlag kam. Nach einer Einheit mit Sprints, Sprungläufen, Kugelstoßen spürte er ein leichtes Ziehen im Rücken. Nicht ungewöhnlich, „aber als ich auf dem Weg zum Auto niesen musste, ist es mir durch den rechten Oberschenkel gezogen“. Der Rest des Auslandsaufenthaltes bestand aus Schmerzen und Physiotherapie, zurück in Deutschland, ergab die MRT-Untersuchung einen Bandscheibenvorfall. „Damit war für mich klar, dass auch diese Saison vorbei sein würde.“
Kleine Mutmacher
Weber verhehlt nicht seine Niedergeschlagenheit. „Frust, Ärger, Traurigkeit, alles war dabei“, sagt er. „Wie sehr mich das belastet hat, ist mir erst im Nachhinein klargeworden. Aber ich musste nach vorne schauen, und das habe ich getan, so gut es möglich war.“ Einzelne kleine Erfolgserlebnisse machten ihm Mut: das nachlassende Taubheitsgefühl im Bein, die zurückkehrende Fähigkeit, das Bein wieder anzuheben, der langsame Wiedereinstieg ins normale Training. „Das waren Dinge, an denen ich mich festgehalten habe.“
Extrem hilfreich seien die drei Reha-Wochen bei der Familie von Desiree Schwarz‘ Freund gewesen, die in Saarbrücken ein Gesundheitszentrum betreibt. „Massage, Krafttraining, Stabilisationsübungen, Akupunktur, Elektrotherapie – wir haben alles gemacht, was man bei einer konservativen Behandlung machen kann“, sagt Weber. „Von morgens bis abends.“
85 plus sollen es werden
Aufholen ließ sich der enorme Trainingsrückstand freilich in der Kürze der Zeit nicht. Krafttraining war möglich, „aber nur mit Frauengewichten. Deshalb habe ich mich jetzt auf Schnellkraftübungen beschränkt“. Sprints gingen bis vor drei Wochen überhaupt nicht, „aber zumindest im Wettkampf muss ich ja auch nicht sprinten“. Und das fehlende Techniktraining muss er mit seiner Routine auszugleichen versuchen. In London sei dies noch nicht ganz gelungen, sonst wären ein paar Meter mehr dringewesen. 85 plus könne er derzeit werfen, sagt sein Trainer Stephan Kallenberg, dessen Einschätzungen immer ziemlich gut sind.
Was das für Nürnberg bedeutet? „Keine Ahnung“, sagt Julian Weber. „Ich will auch gar nicht darüber nachdenken. Ich hoffe, dass ich die richtige Mischung aus Anspannung und Lockerheit finde und der Speer so weit fliegt wie es momentan möglich ist. Alles andere werden wir dann sehen.“
(mit freundlicher Genehmigung von Peter H. Eisenhuth)